Im Jahre 1762 erschien der Erziehungsroman „Émile ou de l' Éducation" des französischen Philosophen und Literaten Jean-Jacques Rousseau. Die Thesen dieses großangelegten pädagogisch-philosophischen Traktates revolutionierten die damalige Pädagogik, denn seine Idee, die Eigenart der kindlichen Psyche systematisch zu erforschen hatte große Nachwirkungen auf alle bedeutenden Erzieher des 19. Jahrhunderts von Pestalozzi über Herbart, Pinel bis zu Fröbel, auch wenn diese viele seiner Ideen in Frage stellten. Rousseaus These, dass der Mensch von Natur aus gut sei und nur durch Zivilisation und Gesellschaft korrumpiert werde, führte vor allem im 19. Jahrhundert zur Romantisierung von Findelkinder-Schicksalen, die in völliger Isolation von Menschen aufgewachsen waren. Der spektakuläre Fall von Kaspar Hauser belegt dies eindrücklich: Er wurde nach seiner Auffindung in Nürnberg zum Mittelpunkt gefühlvoller Salons und geriet dadurch seelisch aus dem Gleichgewicht, was den Schöpfer des bayrischen Strafgesetzbuches von 1813, Paul Johann Anselm von Feuerbach, zu einer denkwürdigen Schrift veranlasste: „Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen". Kaspar Hauser wurde 1833 in Ansbach Opfer eines nie aufgeklärten Mordanschlags.
Im Stück die „Baronin und die Sau" von Michael Mackenzie fühlt sich der Zuschauer an diesen Fall erinnert, doch verfolgt der Autor bei seiner interessanten Beziehungsgeschichte zwischen einer höhergestellten Person und einem bemitleidenswerten weiblichen Findelkind einen anderen Aspekt. Was auf den ersten Blick wie ein Stück über die erzwungene Wandlung eines primitiven zu einem dienenden Menschen anmutet, das entpuppt sich auf den zweiten Blick als ein Stück über die Verwandlung einer unterkühlten Höhergestellten zu einer anders denkenden und einfühlsamen Frau.